Es ist spät und sie hat keine Kraft mehr. Die Schicht ist noch lange nicht zu Ende und die Rückenschmerzen melden sich wieder in Abständen von Minuten. Sie hat keine Uhr mehr. Sie legte sie schon vor ein paar Monaten ab, als sie merkte, dass mit ihr die Zeit noch langsamer vergeht. Das, was sie am traurigsten machte waren vor allem die Straßenlichter, welche durch die verrauchten Räume durchstrahlten. Die Laternen waren schwach und dennoch schaffte sie es die Nacht in Lichterketten zu verwandeln; in Alleen von Stadtgespenster. Ein Kunde rief nach ihr. "Hey, Fräulein" - das Namensschild hatte sie auch schon lange nicht mehr getragen. Den Chef schien dies auch nicht weiter zu interessieren. Sie fand in der Anonymität den perfekten Zufluchtsort. Sie hatte ihre Seele einfach in der Schublade gelassen und diese namenlose Haut angezogen, die sie jeden Tag zur Arbeit brachte.
Sie hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken seit drei Monaten, zwei Tagen und genau fünf Stunden. Und dies wusste sie, weil sie ja jeden Tag noch daran dachte. Es war keine schwierige Entscheidung gewesen, nicht zu trinken... Es war einfach eine natürliche Konsequenz dieser Anonymität, die sie sich auferlegt hatte. Sie hörte auf zu sein; existierte nur in ihrer Funktion als... naja, was auch immer es ist, das man in nächtlichen Bars Getränke-servierend arbeitet: Ersatzehefrau, Seelsorgerin, Psychotherapeutin, Freundin, Nutte, Geliebte und Muse. Sie war all das, ohne sich für eine einzige dieser Funktionen entscheiden zu müssen.
Jeden Tag kam der Poet, der ihr kurze Wortspiele schenkte, und sie "seine unscheinbare Muse" nannte. Unscheinbar wohl gemerkt. Das bereitete ihr Freude. Es kamen aber auch Andere. Sie hatte sich über die Jahre mehr als einmal in nächtlichen Gesprächen fangen lassen; ihre Einsamkeit und Schmerz mit Fremden geteilt, die Ihr hoffnungsvoll versprachen sie für immer in ein anderes Land zu bringen. Sie lebte den Traum und wartete dann auf den nächsten. Es gab keinen Abschied, keinen Austausch von Kontaktdaten. Sie war ja nur ein Schatten und so auch die Träume, die sie hatte.
In dieser Nacht war sie wieder soweit. Sie hatte sich bereits dreimal umgedreht, um den Fremden anzulächeln, der sie "Fräulein" nannte. Sie wusste, dass sie ein schönes Lächeln hatte, auch wenn sie es meistens gar nicht wirklich meinte. Sie nahm ihn mit zu sich in ihr Zimmer. Entkleidete ihn und gab sich hin; im Traum hielt die Nacht für immer.
Der Fremde kam spät am Mittag wieder zu sich und zog sich schnell an. Er verließ das Zimmer ohne zu merken, dass sie schon lange nicht mehr atmete. Sie lag mit ihrem Gesicht auf dem harten Kissen und ihre Augen waren geschlossen. Ihre Haut war bleich und zart, bis auf ihre Hände... Ihre Hände waren steif und kalt, aber dies merkte der Fremde nicht mehr...
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